Gesellschaft im Reinlichkeitswahn – Ein Plädoyer für mehr Gemütlichkeit!

Unser Gesellschaftsreporter Harald Welser schreibt gegen den Hygienefimmel der Gesellschaft an! Ein Weckruf.
– Ein Kommentar von Harald Welser –
Ich schreibe Ihnen diese Zeilen aus meinem Lieblingscafé. Hier kann ich meinen Gedanken freien Lauf lassen. Hier schnappe ich Gespräche vom Nachbartisch auf,
hier habe ich einen freien Blick auf die Menschen. Das Café ist mein offenes
Fenster in die Gesellschaft!
Unsere Gesellschaft hat sich in vielerlei Hinsicht zum Besseren gewandelt.
Alte Schönheitsideale werden mittlerweile infrage gestellt und die Vielfalt an
Körpern jenseits der Norm wird mehr und mehr gefeiert! Der Begriff Bodyshaming
ist in aller Munde. In der Kunst, in den Medien und im Internet ist der Diskurs
bereits weit fortgeschritten.
Doch ich möchte Sie fragen: Kommt diese Entwicklung wirklich in der Realität
der Menschen an? Es sind vor allem Frauen, die immer noch unter dem Diktat
antiquierter Vorstellungen von Schönheit leiden, das möchte ich meinen Ausführungen voranstellen.
Doch auch mir ganz persönlich begegnet die unsichtbare Hand der Normschönheit
immer wieder und wischt mir mit einem Feuchttuch im Gesicht herum! Wenn ich wie
jetzt gerade in meinem Café sitze und sich ein paar Krümmel in meinem Bart
verfangen, fühlen sich die Menschen innerhalb kürzester Zeit dazu berufen, mich
„nett“ darauf hinzuweisen. Schlimmer ist es bei Cappuccinoschaum und
Soßenresten. Im Alltag begegnet einem diese aufdringliche „Freundlichkeit“ unentwegt.
Sie können praktisch die Uhr danach stellen. Nach wenigen Minuten ist ein
Kollege, eine Freundin oder ein Reaktionsmitglied zur Stelle und fordert
Sie schamlos auf: „Mach du dich erst einmal sauber“!
Das Schlimmste ist, dass den Menschen gar nicht bewusst ist, wie übergriffig
und kleingeistig sie sich verhalten. Ich frage Sie: Woher kommt dieser
unnachgiebige Wunsch nach Reinlichkeit? Welchen Wert räumen wir in unserer
Gesellschaft noch der Gemütlichkeit ein? – Wenn das wohlige Gefühl, eine
Kürbissuppe im Winter zu verspeisen, jäh durch Reinlichkeitsapelle durchkreuzt
wird, vergeht einem auf Dauer gehörig der Appetit – und zwar auf seine Mitmenschen. Das stößt einem einfach bitter auf!
Wann lassen wir diese kollektive Obsession hinter uns? Ich befürchte, gerade in einem Land wie Deutschland, in dem sich der gemeine Spießbürger immer noch köstlich über den albernen Loriot-Nudel-Sketch amüsiert, wird noch ein weiter Weg zu gehen sein.
Unsere Gesellschaft ist von einem Hygienefimmel befallen. Er hat von den Eltern
am Nebentisch Besitz ergriffen, die ihren Kindern ständig mit Einwegtüchern im
Gesicht herumtupfen (im Übrigen ein ernst zu nehmendes Umweltproblem) und auch
in meiner Ecke an Tisch 12, ist es nicht möglich sich ihm zu entziehen. Doch
lassen Sie es mir auch den Punkt bringen: nicht irgendwelche Erreger, nein der
Zustand der permanenten Erregung ist die wahre Geisel unserer Gesellschaft!
Stellen wir uns dem entgegen! Machen wir uns frei davon! Der nächste Cappochino
mit extra Milchschaum ist bestellt!